Achtsamkeit und Perfektion – ein paar Anmerkungen

Manchmal entsteht bei mir der Eindruck, dass hinsichtlich der Ideen von achtsam sein bzw. Achtsamkeit, interessante Vorstellungen in unserem Geist am Werke sind.

„Achtsamkeit geht doch schon in unseren Gedanken los“ und „manche Sachen dürfe man nicht mal denken“ – vermutlich weil sie so „unachtsam“ und „schlimm“ sind.

Was hat es damit auf sich? Heißt Achtsamkeit, dass man keine „schlechten“ oder negativen oder kritischen Gedanken haben darf? Dass man immer achtsam – im Sinne von bedacht, entgegenkommend, sorgfältig, vorsichtig – sein muss? Heißt Achtsamkeit, dass man keine Fehler machen darf, sich immer perfekt verhält und sich seiner Umgebung zuliebe grundsätzlich anpasst? Dass man seine Gedanken und Gefühle in Vollendung im Griff hat, um einen vermeintlichen äußeren wie inneren Frieden zu wahren? Heißt Achtsamkeit, dass man niemals jemanden kritisieren oder verletzen darf? Interessante Fragen, oder?

Sobald ich für mich scheinbar klar habe, dass ich selbst „schlechte Gedanken“ oder ein „falsches Verhalten“ habe, bin ich zwar nicht mehr unbedingt achtsam, aber das liegt nicht in erster Linie an dem konkreten Gedanken oder dem Verhalten an sich, welche ich wahrnehme. Diese sind in dem Augenblick aus unterschiedlichen Gründen einfach so wie sie sind! Ich muss dahinter gucken. Dort ist der Schlüssel. Nicht nur dass ich sie habe, ist von Belang. Es liegt an der Art und Weise, wie ich ihnen begegne. Wenn ich sie als „falsch und unerwünscht“ kategorisiere und mich dann mit dieser Kategorisierung identifiziere –

„Ich mag die Art und Weise wie der spricht überhaupt nicht, ganz schlimm, was für ein totaler Vollidiot, ekelhaft“ … „Oh, ich habe jetzt wieder diese krassen negativen Gedanken über andere, immer das Gleiche mit mir, ach, ich bin einfach unverbesserlich, echt peinlich und so fies, ich schäme mich für mich selbst, wann hört das endlich auf?“ -,

dann bin ich bedingt achtsam im Sinne von gewahr sein (da ich meine eigenen abwertenden Gedanken einer anderen Person gegenüber hier ja bewusst mitkriege und als wiederkehrenden Prozess einstufe) bis zu dem Punkt, an dem ich beginne mich selbst innerlich zu verurteilen. Hier verhalte ich mich mir selbst gegenüber genauso unachtsam, ja gewalttätig, wie ich es gegenüber der Person im Beispiel getan habe.

Achtsamkeit liegt demnach nicht darin, meine Gedanken oder Gefühle zu kategorisieren in gut oder schlecht, erwünscht oder unerwünscht und diese bzw. mich selbst dann entsprechend zu sanktionieren. Denn der Gedanke, das Gefühl, das Verhalten ist jetzt gerade ja einfach so, wie er bzw. es halt ist. Achtsamkeit liegt auch nicht darin, dieses vermeintlich Unerwünschte komplett zu negieren und wegzudrängen bzw. mich mit dem Erwünschten über alle Maßen zu identifizieren, es zu idealisieren und daran anzuhaften. Achtsamkeit in diesem Sinne bedeutet sich selbst und seiner Umgebung gewahr zu sein ohne unmittelbare Bewertung im Sinne von gut oder schlecht, erwünscht oder unerwünscht.

„Ich mag die Art und Weise wie der spricht überhaupt nicht, ganz schlimm“… „oh, – STOP – ich habe jetzt wieder diese in einigen Situationen für mich typische Reaktion. Das habe ich jetzt schon so oft beobachtet. Irgendwie stört mich das ja immer noch. Was ist denn da los bei mir, dass ich bei so einigen Typen Mensch auf diese Art und Weise reagiere? Ich guck es mir wohl einfach mal weiterhin an und steige jetzt nicht weiter drauf ein!“

Die ursprüngliche unwillkürliche Reaktion ist nach wie vor da. Wird aber viel früher gestoppt. Die Beobachtung und die damit einhergehende  Benennung von dem, was ist, tritt jetzt in den Mittelpunkt. Das ist eine ganz wesentliche Facette der Achtsamkeit: Es entsteht ein Raum der Beobachtung. Ein Raum, der ganz klar und offen und wertschätzend kritisch wahrnimmt, dabei benennt, was da ist – ohne vorab zu filtern. Ein Raum, der benennt und nicht be- oder verurteilt. Ein Raum, in dem alles sein darf. Ein Raum, der es mir dann perspektivisch ermöglicht, Gedanken, Gefühle und Verhalten konstruktiv zu beeinflussen – weil ich beobachte und nicht mehr anhafte. Durch das Üben der kostbaren menschlichen Fähigkeit zu beobachten, gebe ich mir selbst die wundervolle Chance meine Reiz-Reaktions-Schemata aufzuweichen und selbstbestimmt handlungsfähiger zu werden. 

Achtsamkeit mit einem unfehlbaren Denken, Fühlen, Verhalten gleichzusetzen ist schlichtweg unrealistisch, denn so funktioniert unser Geist nicht. Achtsamkeit hat nichts mit Perfektion zu tun. Achtsamkeit bedeutet auch nicht, dass ich mir selbst und meiner Umgebung nicht auch kritisch begegnen und Konflikte führen darf. Achtsamkeit aus dieser Perspektive ist lediglich der selbst-emanzipatorische innere Raum, in dem das alles stattfindet.

Ein spannender Weg. Lasst ihn uns gemeinsam gehen. In Vertrauen, in Liebe, in Freiheit.

 

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